![Pro Infirmis Bettina Konetschnig IMG_7060.JPG](https://www.mcschindler.com/../content/uploads/2016/08/Pro-Infirmis-Bettina-Konetschnig-IMG_7060.JPG-400x400.jpeg)
„Gestalten Sie eine Kommunikations-Kampagne für ein Thema, das man nicht fassen kann und das auch weitgehend tabu ist. Und ja, das Budget ist auch nicht das Grösste, wir zählen auf Ihren Einsatz und Ihre Kreativität.“ Bei Pro Infirmis ist das Alltag und eine solche Aufgabenstellung macht Bettina Konetschnig, seit fast 20 Jahren in der Kommunikation der Behindertenorganisation, keine Angst, im Gegenteil. 800’000 Menschen in der Schweiz sind wegen Angststörungen in Behandlung, höchste Zeit also, über dieses Tabu-Thema zu sprechen. Darum läuft die aktuelle Pro Infirmis Kampagne unter dem Titel: “Angst lähmt”.
Seit wann arbeitest du bei Pro Infirmis und in welcher Funktion?
Bei Pro Infirmis bin ich seit 1998, seit 19 Jahren arbeite ich als Kommunikationsberaterin, Assistentin des Leiters Kommunikation und seit 5 Jahren bin ich auch Social Media-Verantwortliche.
Wie seid ihr auf die Sozialen Medien gekommen?
Als Nonprofit-Organisation haben wir ein kleines Budget, Social Media hat uns eine gute Plattform geboten um an unsere Zielgruppen zu gelangen. Das hat zwar eine lange Aufbauzeit gebraucht, jetzt wo es rollt, erreichen wir viele Menschen. Und wir nutzen insbesondere Facebook und Twitter sehr aktiv. Mit persönlichen Profilen sind wir auch auf Xing und Linkedin, diese Netzwerke spielen aber eine untergeordnete Rolle.
Im Mai ist die neuste Sensibilisierungskampagne von Pro Infirmis gestartet, worum geht es dabei?
Es ist die zweite Kampagne in Serie, welche wir zum Thema psychische Behinderung gemacht haben. Die Erste war zum Thema Depression „Ich bin leer“, das war 2014. Bei der aktuellen Kampagne “Angst lähmt” geht es um die Angststörung, die jeden überall und jederzeit aus dem Nichts treffen kann. Manchmal reicht ein Trigger um eine Panikattacke auszulösen. Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung ist die am stärksten wachsende Gruppe, die bei uns Hilfe sucht. Körperliche Behinderungen kann man sehr gut sichtbar machen, die Psyche hingegen ist eine kommunikative Herausforderung.
Wie baut man ein Kampagne auf für etwas, was man nicht sehen kann und das sogar weitestgehend ein Tabu ist?
Gestartet sind wir mit einer umfangreichen Recherche, mit sehr vielen Gesprächen mit Betroffenen und wir hatten das Glück, dass uns zwei Ärzte, die auf das Thema Angst spezialisiert sind, unterstützt haben. Wir haben also zunächst einmal sehr viel Wissen zum Thema aufgebaut: Was ist Angst? Was ist normal? Wo wird sie zur Krankheit? Unsere Aufgabe ist gut zuzuhören und zu übersetzen.
Gestartet sind wir am 21. Mai mit Facebook, Twitter und klassischer Medienarbeit. 20Minuten hat das Thema aufgegriffen und auch verschiedene Radio und Fernsehstationen haben sich für ein Interview gemeldet. Das Video haben wir auf YouTube eingestellt und das Thema auf unserer Website aufbereitet. Verbunden haben wir die Meldungen mit dem Hashtag #angstlähmt.
Inhaltlich war es uns wichtig zu zeigen was Angst ist ohne Angst zu machen. Wir wollen Menschen nicht schockieren, sondern zum Nachdenken anregen und ich denke, dass wir das geschafft haben. Da haben wir aus der ersten Kampagne zur Depression viel gelernt, die von Fachleuten dafür kritisiert wurde, dass sie die Zuschauer emotional „heruntergerissen“ hat.
Wen sprecht ihr damit an und was bezweckt ihr?
Wir sprechen die breite Bevölkerung an, welche wir für das Thema psychische Probleme sensibilisieren wollen. Dabei geht es auch um die Früherkennung: 800’000 Menschen sind wegen Angststörungen in Behandlung, die Dunkelziffer dürfte nochmals ein paar Hunderttausend ausmachen.
Betroffene Menschen werden zu Weltmeistern wenn es darum geht, Situationen zu vermeiden, die ihnen Angst machen. „Ich muss den Lift nicht nehmen, Treppen zu gehen ist gesund.“ Natürlich kann das gesund sein, aber genauso eine Strategie, sich nicht in einen engen Raum begeben zu müssen. Viele Menschen können nicht benennen, was sie erleiden. Sie sollen erfahren, was eine Angststörung ist, dass das kein Tabu ist und dass es sehr wichtig ist, darüber zu sprechen. Die Angst ist schon schlimm genug, umso wichtiger ist es, dass Menschen ihre Energie für die Bewältigung und nicht für ein Versteckspiel einsetzen können.
Angst ist eine Erkrankung die umso besser behandelbar ist, je früher man sie erkennt. Wichtig ist, dass Betroffene ihren Platz in der Gesellschaft und auch ihre Arbeit behalten können. Menschen, bei denen die Angststörung ein normales Leben verhindert kommen zu Pro Infirmis.
Welche Rolle spielt dabei Online?
Die Kampagne läuft abgesehen von kostenlosen Füller-Inseraten in den Printmedien nur online. Wir sind bewusst auf Facebook gestartet und twittern. Auf Xing und Linkedin habe ich als Privatfrau auf die Kampagne hingewiesen.
Wir haben stark auf das Campaigning gebaut, das bedeutet, dass wir tagelang versucht haben, uns mit Menschen zu vernetzen. Das ist bei einem solchen Thema relativ schwierig. Teils habe ich Betroffene angeschrieben, die unter einer Angststörung leiden. Wir haben sehr viel auch über Twitter gepostet, das hat uns wegen der Menge an Beiträgen auch eine böse Rüge eingetragen. Mit dem eingeschränkten Budget nutzen wir jedoch auch solche Möglichkeit um an die Menschen zu gelangen. Natürlich nutze ich auch andere Kanäle wie Mail oder persönliche Gespräche um zu mobilisieren. Wir haben ein gutes Netzwerk, auf das wir bauen können.
Die Latte liegt allerdings hoch, denn was wir tun, wird an der Kampagne „Wer ist den schon Perfekt“ mit den Schaufenster-Puppen gemessen. Diese wurde im Ausland aufgegriffen und hat mit 24 Mio. Video-Views rund um die Welt sämtliche Erwartungen übertroffen hat. Dagegen scheinen gut 171’000 Views, die wir in den ersten drei Monaten in allen Sprachen auf YouTube und Facebook erreicht haben, wenig zu sein. Wir sind aber mit diesem Erfolg sehr zufrieden.
Natürlich haben wir auch dieses Mal probiert in die englischen und amerikanischen Medien zu gelangen. Kurz nach dem Start hat Upworthy das Video gepostet was uns bis heute nochmals gut 440’000 Aufrufe gebracht hat, das Video wurde über 3’500 Mal geteilt und 200x kommentiert. Insgesamt verzeichnen wir damit bis heute über 611’000 Videoaufrufe. Natürlich ist das als Schweizer Organisation nicht unser erster Auftrag, aber eine international gute Verbreitung schlägt sich auch wieder in der Wahrnehmung hier in der Schweiz nieder, das haben wir in der Vergangenheit gelernt.
Wie bist du generell mit dem Echo zufrieden?
Sehr. Viele Betroffene schreiben und bestätigen uns, dass sie sich genau so fühlen, wie von uns dargestellt. Wir erhalten Kommentare auf Facebook aber auch viele Mails von Menschen, die nicht öffentlich sein wollen. Diese Echos sind mir viel mehr Wert wie jegliche Preise, die in Wettbewerben zu Kampagne verliehen werden. Schön ist auch, dass sich Fachleute wie Ärzte und Sozialarbeitende, welche ja direkt mit Betroffenen zu tun haben, positiv zur Umsetzung geäussert haben.
Soziale Medien eignen sich hervorragend um zu mobilisieren, macht ihr das und wenn ja wie?
Wie gesagt spielen direkte Kontakte eine sehr wichtige Rolle. Wir kommunizieren aber thematisch breiter, über die reine Kampagne hinaus. Dabei greifen wir Themen von Dritten auf, sei dies von einer Selbsthilfegruppe im Berner Oberland, ein Zeitungsartikel oder eine Stellungnahme. So halten wir unsere Fans mit Themen, welche für sie relevant sind, bei der Stange.
Ein sehr wichtiger Aspekt ist das Fundraising: Unsere Kampagnen sind nicht direkt an Spenden gebunden ist. Man kann nicht Menschen für ein Thema sensibilisieren und gleichzeitig die hole Hand machen. Fundraising-Kampagnen laufen bei uns separat. Pro Infirmis ist im Begriff, eine neue Spendenplattform aufzubauen, das ist so auch nötig, denn Fundraising hat eine andere Sprache und andere Zielgruppen.
Gibt es Kanäle, die sich für die Mobilisierung besser eigenen wie andere?
Für mich eignet sich Facebook besser wie Twitter, weil ich für fachliche Themen etwas mehr Raum für den Text habe.
Welche Rolle spielt eure Website?
Im Moment nicht jene, die ich mir wünsche. Die Seite ist in die Jahre gekommen und wird neu überarbeitet. Möglichkeiten zu Bloggen werden diskutiert. Wenn wir damit anfangen, dann sollten die Beiträge nach meinem Dafürhalten von Betroffenen kommen oder von Menschen, welche mit Menschen mit einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung zu tun haben. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass man da auch Sozialarbeitende und aber auch Betroffene mitschreiben lässt. Es geht darum, dass wir nicht nur über behinderte Menschen sprechen, sondern ihnen die Möglichkeit bieten sich selber zu äussern.
Was hat sich in der Kampagnenführung seit dem Aufkommen der sozialen Medien verändert?
Für mich ist sie spannender geworden, aber auch unberechenbarer, weil ich nicht weiss, was passiert. Wenn ich früher eine Plakatkampagne lancierte, dann lief sie zweimal zwei Wochen und dann war sie wieder vorbei.
Facebook ist für mich ein direkter Feedbackkanal, ich komme mit den Leuten sofort in einen Dialog. Ich erhalte direkte Reaktionen und kann auch unmittelbar mit den Leuten arbeiten.
Welche Rolle spielt das Online-Monitoring?
Wir hören zu, was über unser Thema gesprochen wird. Ich verfolge unsere Hashtags auf Hootsuite, ich gehe auch gezielt auf Plattformen von denen ich weiss, dass sie zu unserem Thema unterwegs sind. Wir arbeiten auch mit Google Alerts in Ergänzung zu Argus. Aber auch hier: Monitoring ist auch eine Budgetfrage.
Was unterscheidet euch von anderen NPOs?
Wir sind für alle Behinderungsarten zuständig, bei uns gibt es keine Sparten, Menschen können zu uns kommen. Wir helfen bei allen Fragen rund um Behinderung und Inklusion.
Was gibst du Kolleginnen auf den Weg, die mit wenig oder ohne Budget Interaktion und Reichweite erreichen wollen?
Sie brauchen eine riesige Portion Leidenschaft für ihr Thema. Wenn ich von meinem Thema spreche, gewinne ich die Menschen dafür. Die Kommunikation muss immer „nach Mensch riechen“. In dem Moment wo ich das Herz in der Sache habe, funktioniert’s, da kann man sich viel Budget sparen.
Und vielleicht noch eine zweite Überlegung: Wir sind zwar über Sensibilisierungs-Kampagnen unterwegs, gleichzeitig betreiben wir aber auch Mitarbeiter-Motivation und Employer-Branding. Mitarbeiter sind stolz auf die Kampagnen, neue Kolleginnen und Kollegen kennen uns praktisch durch’s Band auch von unseren Online-Aktivitäten, von unseren Kampagnen. So werden Mitarbeiter über kurz oder lang auch zu Botschaftern.
Ich danke Bettina Konetschnig für dieses Gespräch.