Die Corona-Krise hat uns im Griff. Besonders betroffen sind jetzt Menschen, die ohnehin schon am Existenzminimum und am Rande unserer Gesellschaft leben. Die Milliarden Fördermittel, die jetzt gesprochen werden, lassen uns nur erahnen, dass auch Menschen in die Armut abrutschen, die sich das bisher nicht vorstellen konnten. Und genau in diese Zeit fällt die Kampagne von Caritas Zürich. Geplant wurde sie weit vor Corona im letzten Jahr – doch sie könnte aktueller nicht sein.
Über die Kampagne habe ich mich mit Sandra Rauch unterhalten. Sie ist die Kommunikationsleiterin von Caritas Zürich und hat mit ihrem Team diese Kampagne auf die Beine gestellt.
Zum Projekt sagt sie: “Die Kampagne war eine Teamleistung und ein schönes Beispiel von integrierter Kommunikation. Wir haben vernetzt gearbeitet, jedes Teammitglied hat sein Fachwissen, seine Kernkompetenzen und Fähigkeiten dort eingesetzt, wo sie gebraucht wurden. Auf diese Weise war die Kampagne weitgehend Eigenleistung. Externe Hilfe von Agenturen haben wir uns nur punktuell und nur dort geholt, wo wir Spezialwissen benötigten, zum Beispiel bei der Schaltung der Online-Ads oder bei der professionellen Produktion der Videos.”
Für die Kampagne habt ihr euch eine wohlhabende Stadt wie Zürich ausgesucht, ist hier Armut überhaupt ein Thema?
Die vermeintlich wohlhabende Stadt Zürich ist ein Ort der Gegensätze: Während der Reichtum gut sichtbar und erforscht ist, bleibt Prekarität unsichtbar. Dies, obwohl in dieser Stadt 30’000 Menschen im Tieflohnsektor arbeiten. Um gute Lösungen in der Armutsprävention und -bekämpfung zu finden, braucht es eine ernsthafte Analyse der Problemstellungen rund um Armut.
Wir schätzen, dass im Kanton Zürich 100’000 armutsbetroffene Menschen leben.
Sandra Rauch, @CaritasZuerich
Im Kanton Zürich existiert zwar eine Sozialhilfe-Statistik, aber kein verlässlicher Armutsbericht. Die Armutsquote wird hierzulande nur auf nationaler, nicht aber auf kantonaler Ebene erhoben. Armut ist entsprechend in Zürich, aber auch in der Schweiz, nur schwach beleuchtet. Abgeleitet vom Bezug an bedarfsabhängigen Sozialleistungen (Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen) schätzen wir, dass im Kanton Zürich über 100’000 armutsbetroffene Menschen leben. Damit unsere Arbeit künftig nicht mehr auf einer – höchstwahrscheinlich zu tiefen – Schätzung beruht, fordert Caritas Zürich vom Kanton einen umfassenden Armutsbericht.
Für unsere Kampagne hat der Fokus auf die Stadt Zürich zudem auch ganz praktische Gründe: Als kantonales Hilfswerk sind wir sehr darauf bedacht, auch in der Öffentlichkeitsarbeit jeden Franken möglichst effizient und wirkungsvoll einzusetzen. Mit unserem begrenzten Budget mussten wir die Werbemittel sehr gezielt auswählen und konzentriert einsetzen.
Die Stadt Zürich ist diesbezüglich sehr attraktiv und sinnvoll, da wir durch die Bevölkerungsdichte sowie den Pendlerverkehr eine grosse Reichweite auch über die Stadtgrenze hinaus erzielten. Mit der Sichtbarkeit der Plakate an den Bahnhöfen und an Plakatstellen, verteilt in der Stadt, erreichten wir sowohl Pendlerinnen und Pendler des ÖVs als auch des Individualverkehrs. So konnten wir – ergänzt mit den Online-Anzeigen – unsere Botschaften in den ganzen Kanton hinaustragen.
Armut ist ein Tabu-Thema. Wie macht man so etwas sichtbar? Woran erkenne ich in meinem Umfeld, ob jemand arm ist?
Armut ist oft unsichtbar. Trotz Arbeit leben viele Menschen knapp am oder unter dem Existenzminimum.
Sandra Rauch, @CaritasZuerich
Armut ist tatsächlich oft unsichtbar. Denken wir nur an die vielen Menschen, die sehr viel arbeiten und trotzdem knapp am oder unter dem Existenzminimum leben, weil sie in einem Tieflohnsegment arbeiten. Für sie bedeutet zum Beispiel eine unvorhergesehene Zahnarztrechnung enormen Stress, weil kein Erspartes vorhanden ist.
Die Corona-Krise hat die Situation für viele durch Kurzarbeit und Lohneinbussen zusätzlich verschärft. Nur schon die bevorstehende Mietrechnung kann schlaflose Nächte bereiten, wie dies auch bei unserer Protagonistin Nora der Fall ist. Aus Scham ist es für viele Menschen zudem schwierig, offen darüber zu sprechen und sich zu zeigen. Wer möchte sich schon als «arm» outen?
Wir zeigen mit unserer Kampagne auf, dass Armut in der Schweiz und in Zürich viele betrifft und es bestimmte Risiken für Armut gibt: zum Beispiel eine Trennung, ein Jobverlust oder Arbeit im Tieflohnsektor. Wenn wir Armut im Umfeld erkennen, ist sicher ein wert- und urteilsfreier Umgang wichtig. Und die Haltung, dass es kein Grund zum Schämen ist, wenn Unterstützung angenommen wird.
Die Kampagne arbeitet mit drei Protagonisten. Wie habt ihr sie gefunden? Und wie habt ihr sie motiviert mitzumachen?
Stefan kennen wir bereits seit über zwei Jahren, er hatte sich damals auf einen Aufruf in einem unserer Caritas-Märkte gemeldet. Seither stehen wir immer wieder in Kontakt und tauschen uns regelmässig aus. Nora ist Klientin in unserer Sozialberatung – gemeinsam wird dort an Lösungen gearbeitet, um ihre prekäre Situation zu beruhigen. Anita nimmt unser Patenschaftsangebot in Anspruch. Zwei ihrer Kinder verbringen einen Teil ihrer Freizeit mit Patinnen und Paten aus dem Caritas-Projekt «mit mir» – wichtige Momente für die Kinder.
Als wir Stefan, Nora und Anita angefragt und ihnen erklärt haben, dass wir mit einer Kampagne auf das Thema Armut aufmerksam machen wollen, brauchte es erstaunlicherweise nicht viel Überzeugungsarbeit. Für alle drei war klar: Wenn sich die Armutssituation im Kanton Zürich verbessern soll, muss in der Öffentlichkeit darüber gesprochen werden. Darum waren auch alle bereit, mitzuwirken.
Nora und Anita haben sich dafür entschieden, anonym zu bleiben, mitunter auch wegen ihrer Kinder. Wichtig war uns, dass wir das Thema mit ihnen zusammen sehr achtsam angehen. Wir haben sie transparent über unser Vorhaben informiert, ihnen durch ihre Zitate eine Stimme gegeben und auf diese Weise das transportiert, was ihnen am Herzen liegt. Das eigene Leben ein Stück öffentlich zu machen braucht unglaublich viel Mut, darum verdienen diese drei Menschen unseren ganzen Respekt.
Storytelling ist ein grosses Thema. Worauf muss man achten, wenn man die Geschichte von Armutsbetroffenen oder generell von Menschen erzählen will, die am Rand der Gesellschaft leben?
Die Geschichten, die wir erzählen, stehen oft stellvertretend für ganz viele andere Schicksale, denen wir in unseren Angeboten begegnen. Für Menschen, die nicht so nah an diesen Schicksalen sind, ist es wichtig zu verstehen und einen Einblick in das Leben eines armutsbetroffenen Menschen zu gewinnen. Dabei versuchen wir Nähe zu schaffen und Emotionen zu wecken – unsere Botschaften sollen mitten ins Herz treffen, nur so erzielen wir Betroffenheit. Und Betroffenheit ist der erste Schritt, dass sich irgendetwas verändert.
Ihr seid crossmedial und multimodal gefahren: Eure Botschaft fährt noch bis Ende Februar mit dem Tram durch Zürich, ihr seid auf Social Media unterwegs. Streuversände gehörten ebenso dazu wie Medienarbeit. Worauf habt ihr beim Medienmix und beim Fahrplan geachtet?
Mit dem ausgewählten Medienmix haben wir den Fokus auf unsere primären Zielsetzungen Visibilität, Bekanntheit und Sensibilisierung gelegt. Umgesetzt haben wir dies in einer sinnvollen Kombination von analogen (Plakate, ÖV, etc.) und digitalen (Website, Online-Ads, Social Media, etc.) Medien. Jede Geschichte ist mit einer konkreten politischen Forderung verknüpft. Hier ist die Medienarbeit zentral, um diese Forderungen auch publik zu machen.
Spenden zu generieren war eine sekundäre Zielsetzung. Natürlich haben wir aber versucht, den Schwung der Positionierungs-Kampagne auszuschöpfen und mittels Online-Spendenaufrufen oder durch einen Streuversand auch Spenden zu erzielen. Diese kommen dann wiederum Armutsbetroffenen wie Stefan, Nora und Anita zugute.
Zum Fahrplan: Gestartet sind wir Anfang August mit einzelnen Werbemitteln wie mit Tram- und Bus-Aussenwerbung und Online-Display-Ads auf verschiedenen Webseiten. Dann haben wir den Takt sukzessive erhöht und mit weiteren Werbemitteln wie Tram- und Bus-Innenwerbung und Plakatstellen ergänzt. Ziel war eine gute Präsenz in der Stadt Zürich zu erreichen, als die Mobilität nach den Sommerferien wieder zugenommen hat.
Welche Rolle hat bei dieser Kampagne die interne Kommunikation gespielt?
In der Kommunikation gibt es eine Grundregel, an die wir uns auch bei Caritas Zürich halten: intern vor extern. Eine gute und transparente Kommunikation nach innen schafft Vertrauen und gibt Orientierung. Dies ist auch bei einer Kampagne zentral. Unsere Mitarbeitenden, Freiwilligen und Mitglieder sind unsere wichtigsten Botschafterinnen und Botschafter. Das, was sie nach aussen tragen, ist die direkteste Werbung unserer Organisation.
Darum war es uns ein Anliegen, sie vor dem Start zu informieren und bei verschiedenen Gelegenheiten darauf aufmerksam zu machen, dass Caritas Zürich bald in der Öffentlichkeit präsent sein wird. Wir haben sehr viele positive Reaktionen erhalten – es ist schon speziell, wenn plötzlich das Tram mit unserer Werbung an einem vorbeifährt, das macht stolz. Ich glaube, wir konnten so mit der Kampagne auch intern punkten.
Gemessen an euren Zielen, was habt ihr erreicht? Gab es auch Überraschungen?
Wir sind sehr zufrieden. Unsere Zielsetzungen Visibilität, Bekanntheit und Sensibilisierung haben wir gut erreicht, die ausgewiesenen Reichweiten mit Plakat-, ÖV- und Online-Werbung waren sehr gross und die Reaktionen überwiegend positiv. Dies zeigten auch die Resultate einer Online-Umfrage, die wir während der Kampagne geschaltet haben: Die Mehrheit fand die Kampagne gelungen und sie fiel auf. Auch wurde auf Social Media fleissig mitdiskutiert. Auf diese stärkere Präsenz werden wir in Zukunft aufbauen können.
Hat euch Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht?
Sandra Rauch @CaritasZuerich
Die Planungsphase für die Kampagne hat bereits 2019 begonnen, da ahnten wir noch nichts von Corona. Natürlich mussten wir uns die Frage stellen, ob wir die Kampagne noch wie geplant durchführen können. Nach intensiven Diskussionen haben wir uns entschieden, am ursprünglichen Fahrplan festzuhalten. Durch die Bilder der langen Schlangen vor Essensabgabestellen oder der Glückskette-Spendenaktion war das Thema Armut im Frühling immer wieder in die Medien präsent.
Daran konnten wir nach den Sommerferien mit unserer Kampagne anknüpfen. Glücklicherweise nahm auch die Mobilität mit dem öffentlichen Verkehr wieder zu. Trotz Corona erzielten wir so eine gute Reichweite und konnten zeigen: Wir waren schon vor Corona da, wir sind jetzt da, wir bleiben auch in Zukunft da. Vielleicht war das für die Eine oder den Anderen auch ein tröstliches Signal.
Caritas Zürich ist ZEWO-zertifiziert, was bedeutet das für die Planung einer Kampagne?
Als zertifizierte Non-Profit-Organisation verpflichten wir uns den ethischen Grundsätzen, den sogenannten Zewo-Standards. Im Bereich Kommunikation und Fundraising bedeutet dies, dass wir ehrlich und klar kommunizieren, überprüfbare Sachverhalte in der Werbung verwenden und über die Kosten für Fundraising und Werbung sowie über den administrativen Aufwand richtige und vollständige Angaben machen.
Mit anderen Worten: Unsere Botschaften sind sorgfältig gewählt und entsprechen der Wahrheit. Wir setzen jeden Franken effizient und wirkungsvoll ein. Konkret bedeutet dies: Wir müssen gut verhandeln, wo immer möglich Rabatte erwirken und viel Eigenleistung für Idee, Layout und Mediaplanung an den Tag legen. Dies ist uns bei unserer aktuellen Kampagne sehr gut gelungen.
Ihr führt seit 14 Jahren das Armutsforum durch, das ja die Armut schon im Namen trägt. Welche Rolle hatte die diesjährige Durchführung in der Kampagne gespielt?
Die Kampagne und das Armutsforum 2020 sind natürlich nicht zufällig thematisch ein «Paket». Beide Elemente widmen sich direkt oder indirekt dem Thema «prekäre Arbeit», das durch Corona ins Bewusstsein vieler getreten ist. In der Kampagne kommt es am Beispiel von Nora zur Geltung: Die Mutter von vier Kindern hat während der Corona-Krise ihren schlecht bezahlten Job in der Reinigung verloren.
Sandra Rauch @CaritasZuerich
Familien, die sich mit prekärer Arbeit über Wasser halten müssen, sind besonders gefährdet, vollends in die Armut abzurutschen. Deshalb: Arbeit muss fair und existenzsichernd sein. Dies ist eine der politischen Forderungen, die wir am Armutsforum gestellt haben. Dass wir damit ein aktuelles Brennpunkt-Thema aufgegriffen haben, zeigt das grosse Medienecho, inklusive Tagesschau-Beitrag.
Ich stelle in diesem Blog immer wieder gerne gute Beispiele aus der Praxis vor. Diese Kampagne habe ich etwas genauer verfolgt, weil im Mitglied im Vorstand von Caritas Zürich bin und dort das Ressort Kommunikation verantworte.