Dieses Jahr wurden die Fox Awards 2020 erstmals auch für Newsrooms vergeben. Die Heilsarmee Schweiz hat für ihr Content Command Center (CCC) einen Preis in der Kategorie Gold geholt. Dabei ist die Geschichte des CCC noch sehr jung. Erst im Frühjahr 2019 hat die Hilfsorganisation entschieden, das gesamte Marketing von Grund auf neu aufzustellen. Heute arbeitet sie vernetzt und themenorientiert. Dafür kombiniert die NPO im Content Command Center das Content Marketing mit der Logik des Newsrooms. Als Mitglied der Fox Award-Jury hat mich insbesondere die Konsequenz in der Themen-zentrierten Herangehensweise überzeugt.
Mirko Lange von Scompler hat das Kommunikationsteam beraten und nach dem SCOM Framework gecoacht. Alle strategischen und operativen Grundlagen für das Content Marketing sind im gleichnamigen Tool hinterlegt.
Für meine Fragen Zeit genommen haben sich Florina German (Leiterin Kommunikation), Daniel Oester (Marketing Manager) und Gino Brenni (Digital Marketing Manager) von der Heilsarmee Schweiz. “Getroffen” haben wir uns, Corona-bedingt, nicht im Newsroom, sondern virtuell via Teams. Dazu muss ich auch gleich ergänzen: Einen eigentlichen Newsroom gibt es aus Platzgründen nicht. Dafür das Committment, konsequent von Themen und der Story aus zu denken und Beiträge in verschiedenen Formaten kanalgerecht zu erstellen.
Heilsarmee Schweiz, keine alltägliche NPO
In der Schweiz ist die Heilsarmee an ungefähr 130 Standorten präsent und unterhält mit rund 1’600 Mitarbeitenden um die 30 soziale Einrichtungen. Dazu gehören Frauen- und Männerwohnheime, Kinderheime bis hin zu Alters- und Pflegeheimen. Hinzu kommen 20 Brockenhäuser, die “Brockis”. Die Heilsarmee ist eine von der ZEWO zertifizierte NPO. Sie setzt sich überwiegend als Sozialwerk, in der Obdachlosenhilfe, der Wohn- und Arbeitsintegration und mit ihren “Brockis” für Menschen am Rande der Gesellschaft ein. Für ihre Arbeit erhält sie neben Spenden und Legaten auch öffentliche Gelder.
Aber die Heilsarmee ist eben auch eine Freikirche und mit gegen 4’000 Mitgliedern und an über 50 Standorten sozial-diakonisch tätig. Uniformen sind das Erkennungszeichen, der internationale Leiter bekleidet den Rang eines Generals, die Geistlichen sind Offiziere. Gemäss eigenen Angaben ist die grosse Mehrheit der Heilsarmee-Mitarbeitenden nicht Mitglied der Freikirche.
Trotzdem wollte ich wissen, wie sich diese militärisch geprägte Organisation, gepaart mit freikirchlicher Nächstenliebe, auf die Kultur auswirkt. Vor allem wollte ich erfahren, wie sich der hierarchisch-militärisch anmutende Auftritt auf eine agile Organisation wie den Newsroom auswirkt. Natürlich ist der Glaube auch ein Thema, denn das Content Command Center deckt auch die Kommunikation gegenüber den Kirchenmitgliedern ab. “Dass dafür Fachleute gefragt sind, die auch Bibelwissen verstehen und teilen können, liegt auf der Hand”, erklärt Florina German. Aber sie ergänzt: “Insbesondere beim grössten Arbeitgeber, dem Sozialwerk, werden die Mitarbeitenden unabhängig von ihrer Konfession nach ihrer Fachkompetenz angestellt.”
Zur Organisation sagt Gino Brenni: “Ich habe noch an keinem Ort gearbeitet, an dem ich so viel Freiraum genossen habe. Die Heilsarmee ist historisch gewachsen. Militärisch ist sie organisiert, weil der Gründer überzeugt war, dass er die Organisation nur auf diese Weise nach seinen Vorstellungen formen und führen könne. Im Alltag, im Hauptquartier in Bern, im gegenseitigen Umgang und auch in der Kommunikation merken wir davon nichts.”
Über den Kulturwandel zum Ziel
Im engeren Team des Content Command Centers arbeiten heute Mitarbeitende aus Marketing, Kommunikation und Fundraising zusammen. Bis vor gut einem Jahr hat jedes Team seine eigene Kommunikation gestaltet. Es hat seine eigenen Geschichten erzählt, nebenbei wurden Kampagnen gefahren. Eine gemeinsame Hauptbotschaft war eher die Ausnahme als die Regel. Alles in allem eine kräftezehrende Situation, die nach einer Veränderung rief. Im Frühjahr 2019 fiel der Entscheid, das Marketing komplett neu aufzustellen, mit einem konsequent vernetzten, themenorientierten Ansatz.
“Wir waren damals bereit, alles zu geben”, sagt Florina German. Hilfe holte sich die Heilsarmee Schweiz in Deutschland. Mirko Lange, der Entwickler von Scompler, einer Software für strategisches Content Marketing, hat das Team durch den Prozess geführt. Gearbeitet wurde in mehreren Workshops und Arbeitsmeetings entlang des SCOM-Frameworks. SCOM steht für strategisches Content Marketing.
Der eine Teil des Kulturwandels vollzog sich durch das Zusammenwachsen der drei Teams Marketing, Kommunikation und Fundraising. Ein weiterer Schritt war ein Wandel von einer Praxis, “die verwertet, was der Alltag so hergibt”, zu einer strategisch geplanten Kommunikation. “Wir haben in diesem Prozess auch Federn gelassen. Es ist leider so, dass man nicht alle Leute mit der gleichen Begeisterung mitnehmen kann”, gibt Florina German unumwunden zu.
Handlungsfelder mit Mission und Fokusthemen
Die Content-Strategie baut auf der zuvor mit einer anderen Agentur entwickelten Core-Story auf. Diese bringt die Mission der Heilsarmee Schweiz auf den Punkt:
“Wir tun alles Menschenmögliche, damit das Gute Wirklichkeit wird.”
Die Heilsarmee ist in der Schweiz eine grosse und komplexe Organisation. Um sie zu positionieren, mussten zunächst alle Handlungsfelder definiert werden. Christlicher Glaube ist neben Wohnen, Teilhabe und Inklusion oder Gesellschaft und Politik nur eines von sieben Handlungsfeldern. Für jedes Handlungsfeld wurde das “Warum” und damit eine Mission definiert. Hier ein paar Beispiele:
- Wohnen – damit alle Menschen in Not ein Zuhause haben.
- Teilhabe & Inklusion – damit kein Mensch ausgegrenzt wird.
- Arbeit & Bildung – damit alle Menschen die Chance auf würdevolle Arbeit haben.
- Christlicher Glaube – damit jeder Mensch konkrete Bereicherung durch die Liebe Gottes erfährt.
- Unternehmenskommunikation – damit die Heilsarmee für jede/n transparent ist.
Was sich hier so einfach liest, war ein hartes Stück Arbeit. “Wir haben um Begriffe gerungen“, sagt Daniel Oester: “Zum Beispiel hatten alle eine etwas andere Vorstellung davon, was ein ‘Zuhause’ ausmacht. Auf Deutsch haben wir die passenden Begriffe gefunden.” Jetzt steht die Herausforderung an, auch die zutreffenden Bezeichnungen in französischer Sprache zu finden. Die Heilsarmee Schweiz kommuniziert zweisprachig.
Im nächsten Schritt hat das Team für jedes Handlungsfeld Fokus-Themen entwickelt und dabei ganze Arbeit geleistet. Man gab sich nicht mit “Pfläschterli-Politik” zufrieden, sondern hat jede Ebene erkämpft und gründlich erarbeitet.
So sind, um beim Beispiel Wohnen zu bleiben, drei Fokus-Themen entstanden:
- Heime als Teil der Gemeinschaft
- Wenn zuhause wohnen plötzlich schwierig wird
- Wenn Menschen ihr Zuhause verlieren
Jedes Thema ist mit einem Score hinterlegt, welcher sein Gewicht im Gesamt-Themenmix definiert. “Heute sind wir in der Lage zu entscheiden und ein Thema nach seiner Relevanz zu beurteilen”, sagt Florina German. “Wir klären, welches Ziel es verfolgt, für welche Zielgruppe es geeignet ist und auf welchem Themenfeld es ansetzt. Das alles ist in Scompler angelegt.”
Geklärt sind die Organisationsziele von denen sich die strategischen und taktischen Kommunikationsziele ableiten. Die Ziel- und Dialoggruppen sind eingeteilt in “Heilsarmee nah” und “Heilsarmee fern”.
Story First, denn es geht um Lebensgeschichten
Aus den Themen werden die Storys entwickelt. Viele Newsrooms verschreiben sich dem Digital-First-Ansatz. Damit setzen sie auf Online-Kommunikation, meist in owned und Social Media. Letztlich steht diese Kanal-orientierte Sichtweise aber im Widerspruch zu einer Logik, bei der eigentlich Themen an die erste Stelle der Überlegungen gehören.
Die Heilsarmee Schweiz setzt auf den Story-First-Ansatz, denn sie hat sehr viele Lebensgeschichten zu erzählen. Allerdings stellt sich am Anfang jeder Geschichte immer die Frage nach dem wie, aber auch nach dem warum. Wie lässt sich die Geschichte jener alleinerziehenden Person erzählen, die trotz Arbeit und Lohn am Ende des Monats in die Lebensmittelabgabe der Heilsarmee kommt? Die Kommunikation muss sich überlegen, wie aus einer solchen Geschichte die maximale Wirkung herausgeholt werden kann. Das Team muss mit aller Sorgfalt abwägen, was eine betroffene Person zu teilen bereit ist. Aber auch welche Wirkung mit der Geschichte erzielt und auf welches Thema sie einzahlen soll.
Das geht nicht ohne die Mitarbeitenden im Terrain. Gino Brenni präzisiert: “Die Protagonisten für unsere Geschichten werden durch die Institutionsleiter, Pflegepersonen oder Sozialarbeiter ausgesucht. Sie stehen mit den betroffenen Menschen oft in einem jahrelangen Vertrauensverhältnis. Sie sorgen für den Schutz der Persönlichkeit und der Privatsphäre. Gemeinsam mit den Betroffenen klären sie, was diese zu geben bereit sind. Die einen geben ein Bild aber ohne Namen. Andere wollen den Namen verändern. Wieder andere schenken uns ihre Geschichte unter der Bedingung, dass sie komplett anonymisiert wird.”
“Wir haben in der Regel wenig Probleme, zu Geschichten zu kommen”, sagt Daniel Oester: “Grundlage ist aber das Vertrauen. Unseren Standortleitern ist es egal, wie gut eine Story läuft; ihr grösstes Interesse ist es, dass ihre Schützlinge nicht etwas preisgeben, was sie später bereuen.”
Es ist schon viel getan, wie geht es weiter?
Das Content Command Center der Heilsarmee ist noch jung. Ich kenne keinen Newsroom, der sich nicht über die Jahre konstant weiterentwickelt und teils auch wieder ein bisschen neu erfunden hat.
Die Heilsarmee Schweiz hat Rollen gebildet, was für diese Organisation ein Novum war. Neben den klassischen Themen- und den Kanalmanagern und einer CvD (Chefin vom Dienst) kennt die Organisation auch die Story-Manager. Diese Aufgabe übernehmen Mitarbeitende, die sich nur im Rahmen eines Projektes temporär um eine Story kümmern. Diese Rolle war für mich neu.
In den Prozessen ist die Beitragsplanung im Grundsatz etabliert. Allerdings sind das wöchentliche Redaktionsmeeting und das monatliche Strategiemeeting sind etwas ins Hintertreffen geraten. Das ist nicht nur bedingt durch Corona, sondern auch durch eine personelle Vakanz auf strategischer Ebene.
In Planung ist auch der weitere Ausbau des Content Command Centers, nachdem die erste Zusammenlegung erfolgreich geklappt hat. Hier stellt sich das Team die Frage, wen es von der Basis einbeziehen will. Im Gespräch sind Expertinnen, die Abteilung Jugend, die Heilsarmee Brocki (die ihre Kommunikation eigenständig gestaltet), die christliche Glaubensgemeinschaft und grössere Institutionen.
Die Transparenz soll weiter verstärkt werden durch den Aufbau der Erfolgskontrolle. Aber auch mit einem Dashboard, welches alle Aktivitäten für Mitarbeitende der Heilsarmee Schweiz abbildet.
Bereits beschlossen ist der Start eines Blogs im November/Dezember. Damit will die Heilsarmee Schweiz die Themenführerschaft in den Kernthemen verstärken und einen SEO-Effekt erzielen.
Innerhalb der 131 Länder, in denen die Heilsarmee aktiv ist, hat die Schweiz mit dem Content Command Center definitiv eine Pionierrolle übernommen.
In den Newsrooms, die ich bisher kennengelernt habe, hat bisher keiner die Content-Strategie so dermassen akribisch durchdekliniert: Strategisch von der Leitidee (Core-Story) über die Handlungsfelder und Themen, auf der Umsetzungsebene mit der Story, inszeniert durch Formate und passend ausgespielt in den Kanälen. Das alles ist in Scompler hinterlegt und sorgt für Verbindlichkeit. “Es gehört schon Disziplin dazu, vor dem Start für jede Story die nötigen Fragen zu beantworten”, stellen meine Gesprächspartner fest. “Und gerade wenn es hektisch wird, kann diese Disziplin auch mal leiden.”
Ich danke Florina German, Daniel Oester und Gino Brenni für das Gespräch und die Zeit, die sie sich genommen haben.
Mehr zum Content Command Center und die gesamte Case Study zum kostenlosen Download (gegen Angabe der Kontaktdaten) finden sich hier.
Find ich toll. Nicht digital ist in erster Linie wichtig, sondern Inhalt und Content, der glaubwürdig wiedergegeben wird. Die machen das wirklich gut und die Kommunikations ist mir schon aufgefallen. Jetzt habe ich mit diesem Blogbeitrag auch das Warum erfahren. Danke für diese Hintergrundgeschichte Marie-Christine!
Gerne, Sibylle, ich gebe den Dank gerne weiter ans Komm-Team von Heilsarmee Schweiz, die mit mir ihr Wissen und ihre Erfahrungen geteilt haben.
Vielen Dank, das freut uns sehr!