Bei Berichten über Flüchtlinge lesen wir von Strömen, Wellen oder Massen. Dabei blenden wir völlig aus, dass es Menschen sind, die zu Hunderttausenden auf der Flucht sind. Projekt Life Jacket gibt ihnen ihr Gesicht, ihre Identität und ihre ganz persönliche Geschichte zurück. Die Kampagne will unser Bewusstsein verändern. Initiiert hat sie die Kreativ-Agentur Jung von Matt, mitgewirkt haben 22 Nonprofit-Organisationen.
Wie kann man Geschichten besser greifbar machen wie mit jenen Schwimmwesten, die Geflüchtete auf dem Meer vor dem Untergang bewahrt haben. Diese Zeugen von zahlreichen dramatischen Schicksalen bilden das Kernstück der Kampagne Projekt Life Jacket. Auf jeder Weste sind Stationen aus dem ganz normalen Alltag eines geflüchteten Menschen aufgezeichnet. Den Auftakt zur Kampagne Projekt Life Jacket machte eine Vernissage im Dezember in Zürich, an der diese Westen gezeigt wurden um das Unfassbare fassbar zu machen. Heute wird die Kampagne weitgehend online weiter geführt.
Ich habe mich mit Cyrill Hauser von JungvonMatt über Motivation, Strategie und Umsetzung unterhalten.
Worum geht es beim Projekt Life Jacket und wie ist es dazu gekommen?
Das Projekt soll das Flüchtlingsdrama wieder auf die Agenda von Politikern, Medien und allen EU-Bürgern katapultieren und der Stigmatisierung durch das Label „Flüchtlinge“ entgegenwirken. Wir wollen aufzeigen, dass es sich bei den Flüchtlingen nicht um Kriminelle und Nicht-Kriminelle handelt, sondern um ganz normale Menschen wie du und ich. Wir haben das gemacht, indem wir den Alltag vor dem Krieg der sogenannten „Flüchtlinge“ auf gebrauchten Schwimmwesten festgehalten haben. Mit diesen Westen, die an den Stränden Griechenlands gefunden wurden, machen wir der Öffentlichkeit die Geschichten auf projectlifejacket.com zugänglich.
Anfänglich wurde sehr viel Gutes gemacht. Nach wie vor setzen sich viele engagierte Bürger und Vereine vor Ort für Menschen auf der Flucht ein. Wie so oft, wenn keine schnelle Lösung gefunden wird, hat das Thema heute meist nicht mehr erste Priorität auf der Agenda von Politikern und Medien. Fakt ist: Das Flüchtlingsdrama nimmt kein Ende. Und wird auch nicht von einem Tag auf den anderen gelöst. Der Krieg in Syrien und anderen Konfliktgebieten dauert unvermindert an. Noch immer kommen täglich hunderte Bootsflüchtlinge in Griechenland und Italien an. Wenn über sie geschrieben wird, dann über ihre Flucht, ihr Leben in den Camps – und vor allem mit dem Label “Flüchtlinge”, das die Menschen entpersonifiziert. Genau hier setzt das Project Life Jacket an.
Wir unterstützen als Agentur pro Jahr in ein bis zwei Projekte, bei denen wir glauben, einen kreativen Beitrag leisten zu können. Damit wollen wir die Welt ein wenig besser machen.
Welche konkreten Ziele habt ihr verfolgt und wie habt ihr sie gemessen?
Wir möchten die Menschen in Europa durch die Schicksale aufrütteln und ihnen so einen neuen Zugang zum Thema ermöglichen. Zudem beginnt die Lösung oft im Kleinen, also auf der individuellen Ebene. Auf projectlifejacket.com kann jeder seine ganz persönliche Art der Unterstützung wählen: Entweder als Botschafter mit einem Share oder einem Post mit dem Hashtag #projectlifejacket oder aber mit Geld-, Sach- oder Zeitspenden an die Partner-Organisationen.
Ihr wolltet euch Gehör verschaffen, wie seid ihr strategisch vorgegangen?
Lanciert haben wir das Projekt am 8. Dezember 2016. Bis zum Jahresende haben wir das Projekt aktiv über alle Kanäle immer wieder gepusht. Nun sind wir vor allem opportunistisch unterwegs und nutzen die besten Chancen, die sich bieten, um zusätzliche Aufmerksamkeit für das Projekt zu erlangen. Es kommen täglich Anfragen über Social Media und E-Mail rein und mit zahlreichen Journalisten sind wir im Gespräch über Artikel, die noch entstehen.
Die Kampagne ist ja über mehrere Kanäle gelaufen, wie hat der Kommunikationsmix ausgesehen? War er crossmedial abgestimmt?
Wir haben uns fokussiert auf PR und Online Campaigning in Europa. Zum Start haben wir einen Thunderclap lanciert, mit dem wir 360’000 Leute erreicht haben. Dann ging die Website live und wir haben das Projekt global kommuniziert und platziert. Parallel haben wir eine eigene Präsenz auf Facebook und Twitter aufgebaut.
Wir haben das Video auf Facebook mit wenigen hundert Franken zum Start beworben. ‘That’s it hinsichtlich bezahlter Reichweite.
Zusätzlich haben die Partner-NGO lokal darauf aufmerksam gemacht und eine Woche später haben wir die Westen im Rahmen einer Ausstellung Medien und Interessierten gezeigt.
Was waren die grossen Herausforderungen bei der Umsetzung von Projekt Life Jacket?
Das war klar der Dreh in Griechenland. Schwierig, weil wir mit verstecktem Equipment in den Camps filmen mussten. Und emotional, weil einem die Schicksale sehr nah gehen. Und dann natürlich die Tage um die Lancierung. Da war das ganze Team rund um die Uhr im Einsatz. Man möchte noch mehr machen, doch irgendwann muss man zwischendurch auch Mal schlafen.
Wie ist das Echo ausgefallen? Was habt ihr erreicht?
Wir werden noch immer mit positiven Reaktionen überhäuft. Viele Medien haben darüber berichtet, viele Menschen das Anliegen geteilt. Wir haben die Zahlen noch nicht ausgewertet, aber die Reichweite dürfte bei weit über 20 Millionen liegen. Zudem haben wir viele Anfragen von Interessenten (Firmen, NGOs, Galerien usw), welche die Jackets ausstellen möchten. Unser Ziel ist es, die Westen wieder den Protagonisten zurückgeben zu können, wenn sie eine sichere Heimat gefunden haben. Aktuell sieht es danach aus, dass wir das bald machen können für Ghalia und Ismael. Es sieht gut aus, dass ihnen in Deutschland beziehungsweise Frankreich Asyl gewährt wird.
Mit dem bisherigen Echo sind wir sehr zufrieden: Medien, Politiker und Künstler haben über Projekt Life Jacket gesprochen und zur Verbreitung unseres Anliegens beigetragen. Online wurde das Thema sehr gut aufgenommen und hat uns eine beachtliche Reichweite eingebracht. Ganz konkret sah das bisher so aus, wobei ich hier nur die Relevantesten nenne (Stand 10.2.17):
- Reichweite: Online Earned Reach: 27.7 Mio., Social Reach 10.3 Mio.
- Die Videos haben 1.3 Mio. Views erzielt, die durchschnittliche Verweildauer der Besucher auf der Webseite lag bei fast 4 Minuten.
- Medienecho mit über 60 Beiträgen auf vier Kontinenten (Australien, Amerika, Asien, Europa).
- Nationale und Internationale Politiker und Prominente/Influencer haben das Projekt auf Social Media unterstützt.
- Nationale Unterstützer sind: Greis, Knackeboul, Sibel Arslan, Gülsha, Cedric Wermuth, Jolanda Spiess.
- Internationale Unterstützerin ist Pamela Anderson.
- Medien aus der Schweiz: 20 Minuten, Radio SRF, annabelle, VICE, Radio Energy, Radio 1.
- Internationale Medien: AJ+ (Al Jazeera), Spiegel, NOS Holland, India Daily News.
Mit im Boot waren 22 NGOs, die das Thema ebenfalls gestossen haben, wie hat sich diese Zusammenarbeit gestaltet?
Die Zusammenarbeit in der Konzeption beschränkte sich auf die drei Initiatoren-NGOs. Die restlichen NGOs haben sich bereit erklärt, das Projekt über ihre eigenen Kanäle und mit lokaler Medienarbeit zu unterstützen. Dies hat funktioniert. Klar ist aber auch: die Hauptarbeit lag beim Kernteam. Denn viele der kleineren NGOs haben keine eigenen Kommunikationsressourcen, sondern fokussieren sich auf die Hilfe vor Ort.
Aus wem bestand das Projektteam und wie habt ihr euch koordiniert?
Das Projektteam bestand aus unglaublich inspirierenden Menschen von The Voice of Thousands, Borderfree und Schwizerchrüz.ch sowie Talenten von Jung von Matt. Und dann waren da viele engagierte Persönlichkeiten, die halfen beim Videoschnitt, Übersetzung usw. Aufgeführt sind alle Mitwirkenden hier.
Welche Ressourcen standen insgesamt zur Verfügung?
10’000 Franken und das unglaubliche Engagement von allen. Viel Herzblut und auch Abend- und Wochenendarbeit.
Was nehmt ihr aus diesem Projekt mit? Wie geht es weiter?
Uns ist bewusst, dass wir mit diesem Projekt das nicht alleine Problem lösen können. Wir sind aber stolz, dass wir so viele Menschen mit der wichtigen Botschaft erreichen konnten und noch immer erreichen. Unser Anliegen ist es, dass wir alle Westen den Protagonisten zurückgeben können, weil sie eine sichere, neue Heimat gefunden haben. Bis es so weit ist, machen wir weiter mit dem Projekt auf die schlimme Situation aufmerksam.